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Warum ich gern Paul Auster lese: Mein Gastspiel als Book Sister

Im Oktober las ich als Gastautorin der Lesebühne Book Brothers in Leipzig. Zunächst verwundert über die Anfrage bin ich doch weder ein Brother noch kann ich ein eigenes Book vorzeigen , freute ich mich schon mehrere Monate lang auf das Gastspiel zusammen mit Roman Israel, Benjamin Kindervatter und Uwe Schimunek. Die Lesung fand im Rahmen des "Leipziger Literarischen Herbst" statt, das Thema wurde mir erst einige Tage vorher noch einmal in Erinnerung gerufen: Amerika. Hm, was verbinde ich damit? Ich folgte meiner ersten Eingebung: Paul Auster. Ich lese wahnsinnig gern Paul Auster. Der erste Amerikaner, der mir in den Sinn kommt. Was ich an seinen Büchern schätze? Eine Formulierung dessen habe ich in meinem Text versucht.

 

Warum ich gern Paul Auster lese

Das ist wie mit dem Wort Trostlosigkeit – darin steckt ja noch immer „Trost“. Ich glaube, da fängt für mich alles an. Dies ist der Versuch einer Erklärung.
Ein Held in Paul Austers Erzählung, ein Student, ist arm wie eine Kirchenmaus. Er gönnt sich selbst nur zwei Eier pro Tag, definiert die ihm zustehende Lebensmittelration. Das Lebensmittel eines Mittellosen. Doch beim Lesen weiß ich, dass die Zeit kommen wird, an der der Mond wieder über Manhatten steht. Ich bin er, wenn ich sehe, wie die zwei rohen Eier sich in einem schicksalsschweren Moment in Bewegung setzen. Sie beginnen zu rollen und zerbrechen schließlich auf dem Küchenboden. Das Heiligtum! Zerronnen! Ein Tag voll noch größeren Hungers ist zu ertragen. Diesen eigentlich unerträglichen Zustand verkrafte ich als Leserin nur, weil ich weiß: Das Festmahl naht! Ich möchte den Helden anfeuern: Halte aus, deine Askese wird ein Ende haben! Und natürlich lese ich weiter, bin berührt vom Leid. Und immer wieder passiert es, in der Regel ab Seite 12: Ich werde selbst zur Figur der Erzählung. Meine Kleidung ist abgetragen. Ich flaniere durch Avenues oder den Broadway entlang und studiere Leuchtreklamen. Amerika, das könnte auch sein: Frank Sinatra, McDonalds und die Mondlandung. Für mich ist es Paul Auster. Mit kaltem Asphalt und trockener Sehnsucht. Diese Sonntagsstimmung, in der Leute stehen bleiben, Details erkennen und Dinge als Zeichen deuten. Die finde ich nur hier. Diese Ruhe, die mich erfüllt, wenn ich ganz bei Ferguson bin, der Amerika hinter sich gelassen hat und in einem Pariser Mansardenzimmer haust. Er arbeitet an seinem Roman, täglich zehn Stunden und hält durch. Sein ärmliches Leben imponiert mir und wieder fühle ich mit, schon kurz nachdem ich den Buchrücken breche. Ich bin vorsichtig, aber dieses ganz spezielle Geräusch ist unvermeidlich. Da kann ich meinen Auster noch so liebevoll anpacken, Lesen kann man eben hören. Und ich bin stolz auf Ferguson, als er sein Buch beendet: Du hast es geschafft, möchte ich ihm zurufen und jubeln und mit ihm über die morschen Dielen seines Kämmerchens tanzen. So lang saßen wir hier, gemeinsam, und zweifelten und verwarfen und blieben dann doch dran. Meine 105 Seiten waren sein längstes Jahr. Das war es auch schon, das ganze Geheimnis: Führ zu Ende, was du tun musst. Es steckt ja alles schon in dir!  Die Geschichte steckte ja in uns! Der Rest ist nur Glaube. Schon wieder etwas Tröstliches. Und überhaupt diese Botschaft: Bescheidenheit. Keine Heldin und kein Held rühmt sich hier mit Reichtum, vielmehr liegt das Glück auf der Straße. Oder wartet an der nächsten Ecke. Wenn du nur darauf zu läufst, es entdeckst und aufhebst. Und den richtigen Weg findest, damit es dir überhaupt begegnet. Darin liegt deine gesamte Herausforderung. Und was jetzt nach Wandtattoo klingt, ist wundervoll, wenn es als Erkenntnis nach dem Abschluss der Lektüre, beim Zuklappen des Buchs, durch meine Adern fließt. Und ich plötzlich wieder glauben kann. Für mich ist Paul Auster nicht trostlos. Vielmehr lädt er ein; in viele kleine Welten, in denen das Gute recht ist, Empathie zur Tugend wird und ja, öfter mal jemand leidet. Aber eigentlich ist mir das lieber als das Gefühl des Sich-Behaupten-Müssens der Heutezeit. Des Lebens außerhalb meines Austers. Seine Erzählwelten sind für mich echt und ja, auch über Amerika und seine Geschichte habe ich viel gelernt. Und deshalb denk ich bei Amerika an Paul Auster, einen Mond über Manhatten, an Fergusons vier Leben, Stummfilme und Anekdoten. Und ein bisschen Melancholie – das gehört einfach dazu.

Book Brothers meet Book Sister

Foto: Oliver Teetz // Von links: Benjamin Kindervatter, Uwe Schimunek, ich und Roman Israel.